Der von Seehofer vorgeschlagene „Kompromiss“ zur Frage der dringend gebotenen Aufnahme unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen aus Griechenland ist aus Sicht der Flüchtlingsräte empörend.
„Das Angebot des Bundesinnenministers, 144 Kindern einen Nachzug zu ihren Familien zu ermöglichen, auf den sie ohnehin einen rechtlichen Anspruch hätten, ist nicht mehr als ein Feigenblatt“, erklärt dazu Gerlinde Becker vom Flüchtlingsrat Niedersachsen. „Die betroffenen Kinder brauchen Hilfe, keine Placebos“.
Bundesinnenminister Seehofer hat den Vorstoß von Boris Pistorius, unbegleitete minderjährige Geflüchtete aus griechischen „Hotspots“ in Deutschland aufzunehmen, am vergangenen Dienstag zurückgewiesen. Aus seiner Sicht unterstütze Deutschland Griechenland bereits mit technischen und finanziellen Mitteln wie auch der Vermittlung von Know-How. Für 50 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge sollen die Verfahren nun beschleunigt und bei 94 weiteren die Zusammenführung mit Familienangehörigen in Deutschland in die Wege geleitet werden.
"Unbegleitete Kinder und Jugendliche gehören zu den verletzlichsten unter den Flüchtlingen. Drei Viertel der in Griechenland gestrandeten Kinderflüchtlinge vegetieren zu großen Teilen als Obdachlose oder bar jeder bedarfsgerechten Betreuung und angemessener Versorgung", mahnt Martin Link, Geschäftsführer beim Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein, und fordert: "Wir fordern von der in Lübeck tagenden Innenministerkonferenz den Beschluss eines robusten Aufnahmekontingents minderjähriger Flüchtlinge aus Griechenland. Es eilt - der erwartete Wintereinbruch wird die ohnehin prekäre Lage erheblich verschärfen."
Derzeit befinden sich ca. 4.100 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge auf den griechischen Inseln, davon nur ca. 1000 in kinder- und jugendgerechten Unterbringungsplätzen. Alle Minderjährigen, die nicht hier untergebracht sind – also über 3.000 Kinder und Jugendliche –, leben unter katastrophalen Bedingungen auf der Straße, in Flüchtlingslagern für Erwachsene, sie befinden sich in „Schutzhaft“ oder leben in Zelten oder unter Planen in den Hotspots auf den griechischen Inseln. Hier sind sie ungeschützt vor Gewalt und Ausbeutung, leiden an mangelhafter Versorgung und erhalten kaum anderweitige pädagogische oder rechtliche Unterstützung.
Die Beschleunigung bereits laufender Verfahren von 50 Minderjährigen ist wichtig und dringend notwendig für die betroffenen Kinder und Jugendlichen, doch angesichts der ausufernden kindesrechtsverletzenden Dimensionen in Griechenland und des nahenden Winter eine lächerliche Zahl und als Affront zu werten – zumal es sich überwiegend um Verfahren handelt, die bereits über Monate verschleppt wurden und bei denen die Minderjährigen schon längst einen Rechtsanspruch auf Familienzusammenführung haben.
Ein breites Bündnis verschiedener Organisationen ruft deshalb in einem Appell an die Landes- und Bundespolitik dazu auf, noch bis Dezember mindestens 1.000 unbegleitete Kinder und Jugendliche aus Griechenland in Deutschland aufzunehmen.
Es scheint grotesk, dass in Deutschland Einrichtungen trotz vorhandener Kapazitäten und Fachpersonal schließen müssen, weil nicht genügend umF untergebracht werden, während über 3.000 Kinder und Jugendliche in Griechenland unter absoluter Missachtung des Kindeswohls unter schlimmsten Umständen verharren müssen.
Zum Hintergrund:
Der niedersächsische Innenminister Pistorius reiste Ende Oktober 2019 nach Lesbos und Athen, um sich ein eigenes Bild von der Situation vor Ort zu machen. Die dortigen Verhältnisse – insbesondere für unbegleitete minderjährige Geflüchtete – schockierten ihn derart, dass er seit seiner Rückkehr für ein sofortiges Aufnahmeprogramm auf Bundes- und Landesebene einsetzt, um gerade die Minderjährigen ohne Begleitung möglichst noch vor diesem Winter sicher unterzubringen.
Der Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein und Stefan Schmidt, Landesbeauftragter für Flüchtlings-, Asyl- und Zuwanderungsfragen SH, hatten sich daraufhin an den schleswig-holsteinischen Innenminister und Vorsitzenden der IMK Hans Joachim Grote mit einem Appell zur Unterstützung der niedersächsischen Initiative und zur Aufnahme von Kinderflüchtlingen aus Griechenland in Schleswig-Holstein gewandt.
Auch der Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (BumF e.V.) hat in Kooperation mit Equal Rights Beyond Borders einen ausführlichen Bericht über die Situation unbegleiteter Minderjähriger in Griechenland verfasst.
gez. Martin Link