Die Pflicht zur Rettung von Menschen in Seenot ist als Ausdruck der Menschlichkeit tief verankert in den jahrhundertealten Traditionen der Seefahrt. Sie gilt als Völkergewohnheitsrecht. Aufgeschrieben wurde dieses Recht zuerst 1910 im Brüsseler Abkommen zur einheitlichen Feststellung von Regeln über Hilfeleistung und Bergung in Seenot. Jede nachfolgende internationale Übereinkunft über die Sicherheit auf See enthält entsprechende Vorschriften:
- 1974 Internationales Übereinkommen zum Schutz menschlichen Lebens auf See (SOLAS), Kapitel V, Bestimmung 10
- 1979 Internationales Übereinkommen über Seenotrettung (SAR) Kapitel 2, Nr.2.1.10
- 1994 Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (SRÜ) Art. 98 - Pflicht zur Hilfeleistung
Art. 98 SRÜ Absatz 1:
Jeder Staat verpflichtet den Kapitän eines seine Flagge führenden Schiffes, soweit der Kapitän ohne ernste Gefährdung des Schiffes, der Besatzung oder der Fahrgäste dazu imstande ist,
a) jeder Person, die auf See in Lebensgefahr angetroffen wird, Hilfe zu leisten; […]
Diese Verpflichtung gilt in allen Meereszonen, auch in den Küstengewässern, die sich bis zu 12 Seemeilen vor der Küste erstrecken. Durchfährt ein Schiff diese Küstengewässer eines Staates und trifft auf Menschen, die in Seenot geraten sind, so ist es zur Hilfeleistung verpflichtet. Jedes Schiff hat mindestens das völkergewohnheitsrechtliche Recht der „friedlichen Durchfahrt“ durch Küstengewässer, das gilt z.B. auch für die Mittelmeerküste von Libyen.
Trotz dieser Regelungen ertrinken nahezu täglich Menschen auf der Flucht im Mittelmeer, während Deutschland und die EU Seenotrettung nicht nur vielfach unterlassen, sondern aktiv verhindern.
Während die Zahl der Menschen, die über das Mittelmeer nach Europa fliehen seit 2015/2016 massiv rückläufig ist, steigt im Verhältnis die Zahl der Ertrunkenen an. Im Jahr 2015 überquerten 1.015.078 Schutzsuchende das Mittelmeer lebend, 3.771 Menschen ertranken. 2017 waren es noch 172.301, nachweislich ertranken in diesem Jahr 3.139 Menschen. Die Dunkelziffer ist beträchtlich höher. 2018 kamen an den europäischen Mittelmeerküsten 54.697 Geflüchtete an. Bis jetzt starben 1.410 Menschen. (Stand 20.7.2018, Zahlen vom UNHCR, allein im Juni und Juli 721)
Durch die Kriminalisierung von zivilen Seenotrettungsinitiativen (aktuell die Festsetzung mehrerer Schiffe in Malta), die Beschränkung des Einsatzgebietes von Operation Sophia und die Zusammenarbeit mit der libyschen Küstenwache verstößt die EU, maßgeblich auch Deutschland, gegen nationales und internationales Recht und nimmt den Tod von Schutzsuchenden in Kauf.
Rückweisungsverbot
Gemäß dem Non-Refoulement-Gebot der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) darf niemand dahin zurückgewiesen werden, wo ihm oder ihr Folter, unmenschliche Behandlung, erniedrigende Behandlung oder erniedrigende Strafe droht.
Artikel 33 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK 1951)
„Keiner der vertragschließenden Staaten wird einen Flüchtling auf irgendeine Weise über die Grenzen von Gebieten ausweisen oder zurückweisen, in denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde.“
Normiert wurde das Rückweisungsverbot der GFK 1951 angesichts der tödlichen Zurückweisung von Juden an einigen deutschen Außengrenzen vom Völkerbund, dem Vorgänger der Vereinten Nationen.
Die Rückführung von Menschen nach Libyen verstößt gegen das Non-Refoulement-Gebot und die GFK. „Ausschiffungsplattformen“ und die Deportation von Flüchtlingen in „Auffanglager“ in Libyen verstoßen somit klar gegen die menschenrechtlichen Verpflichtungen der EU und Deutschlands.
Die Situation in Libyen ist verheerend. Seit dem Sturz des Machthabers Muammar al-Gaddafi gibt es keine Regierung, die das Staatsgebiet effektiv kontrolliert. Stattdessen kämpfen hunderte Milizen und bewaffnete Gruppen um die Vorherrschaft und die Kontrolle über bestimmte Gebiete, lukrative Handelsrouten sowie strategisch wichtige Militärstandorte. Selbst die Hauptstadt Tripolis ist unter bewaffneten Banden aufgeteilt.
Flüchtlinge berichten die grausamsten Erlebnisse aus Libyen. In offiziellen Gefängnissen und tausenden inoffiziellen Gefangenenlagern werden Flüchtlinge von kriminellen Milizen und Banden festgehalten. Sie sind schweren Misshandlungen, Folter (zwecks Erpressung der Familien) und sexueller Gewalt ausgesetzt. Ihnen werden Nahrung, medizinische Versorgung und sanitäre Anlagen vorenthalten. Internationale Medien berichten über Sklavenhandel.
Die EU und Deutschland verstoßen durch die Missachtung der Seenotrettungsverpflichtung und die Zurückweisung Geflüchteter in extrem unsichere Staaten gegen geltendes Recht. Sie machen sich damit mitschuldig an der hohen Zahl von Toten und misshandelten Menschen.
Das Recht und die Verpflichtung zur Seenotrettung müssen eingehalten werden. Seenotrettende dürfen nicht behindert und kriminalisiert werden. Menschen dürfen nicht in unsichere Staaten, sondern müssen an wirklich sichere Orte gebracht werden, an denen sie rechtsstaatliche Asylverfahren durchlaufen können.
Weiterführende Informationen:
Zur Lage in Libyen:
https://www.amnesty.de/jahresbericht/2018/libyen#section-1723485 https://www.ardmediathek.de/tv/Monitor/Folterknechte-und-Menschenh%C3%A4ndler-Deuts/Das-Erste/Video?documentId=50874692
https://www.ohchr.org/Documents/Countries/LY/DetainedAndDehumanised_en.pdf
https://www.bbc.com/news/world-africa-39567632
Zur Seenotrettung und der Lage auf dem Mittelmeer::
http://data2.unhcr.org/en/situations/mediterranean
http://missingmigrants.iom.int/
Zu rechtlichen Zusammenhängen:
SRÜ:
GFK:
https://www.bundestag.de/blob/525940/35ab2277c0fa202a591822c202c6fa72/wd-2-053-17-pdf-data.pdf
https://www.bundestag.de/blob/535236/262c8b171d4d88f9710a25df757194b5/wd-2-106-17-pdf-data.pdf
https://www.bundestag.de/blob/525660/e43d2ccfb3b60ecb334f9276ae0f6f6c/wd-2-075-17-pdf-data.pdf
https://www.bundestag.de/blob/516166/90470cc9ff31524a40522ac738f79fbd/wd-2-068-17-pdf-data.pdf